07 – Reformierte Ästhetik als neues Kulturparadigma

Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik. Teil VII


Pieter Codde: Kunstfreude im Atelier (1630, Ausschnitt) © Fondation Custodia / Wikicommons

Von Andreas Mertin

Der reformierte Blick auf die Bilder, so hatten wir in der letzten Folge gesehen, wurde von den Reformatoren dahingehend geschult, dass der Kultraum von den Bildern freizuhalten sei, Bilder an sich aber nicht abzulehnen sind, weil sie Teil der menschlichen Kultur sind.

Inwiefern entsteht dadurch ein neues Kulturparadigma? Ich glaube, dass wir hier einander ergänzende Phänomene beobachten können: zum einen entsteht durch die Abweisung der Kultbilder eine neue Art von Kunst, die sich mit den Realitäten des Lebens auseinandersetzt. Und dann entsteht zugleich eine neue Art von Kunstbetrachtern, die Kunst als Element ihrer höchst eigenen bürgerlichen Kultur begreifen. Und schließlich entsteht aus der Kombination der beiden ersten Faktoren ein neues Verständnis der Kunst, ein Kunstsystem, das als Zusammenspiel von autonomer Kunst und kritischem Betrachter und Sammler funktioniert.

Um das erste zu begreifen, ist ein Blick auf die Niederlande hilfreicher als der nach Genf, Basel oder Zürich. Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, die er zwischen 1817 und 1829 gehalten hat, eine schöne Zusammenfassung der langfristigen Folgen reformierten Denkens auf die Kunst gegeben. Hegel beginnt seine Beschreibung der niederländischen Malerei so:

„Diese sinnige, kunstbegabte Völkerschaft will sich nun auch in der Malerei an diesem ebenso kräftigen als rechtlichen, genügsamen, behaglichen Wesen erfreuen, sie will in ihren Bildern noch einmal in allen möglichen Situationen die Reinlichkeit ihrer Städte, Häuser, Hausgeräte, ihren häuslichen Frieden, ihren Reichtum, den ehrbaren Putz ihrer Weiber und Kinder, den Glanz ihrer politischen Stadtfeste, die Kühnheit ihrer Seemänner, den Ruhm ihres Handels und ihrer Schiffe genießen, die durch die ganze Welt des Ozeans hinfahren.

Und eben dieser Sinn für rechtliches, heiteres Dasein ist es, den die holländischen Meister auch für die Naturgegenstände mitbringen und nun in allen ihren malerischen Produktionen mit der Freiheit und Treue der Auffassung, mit der Liebe für das scheinbar Geringfügige und Augenblickliche, mit der offenen Frische des Auges und unzerstreuten Einsenkung der ganzen Seele in das Abgeschlossenste und Begrenzteste zugleich die höchste Freiheit künstlerischer Komposition, die feine Empfindung auch für das Nebensächliche und die vollendete Sorgsamkeit der Ausführung verbinden.“

Nun setzt dieser Realismus schon lange vor der Reformation ein, er hat seine Wurzeln in der Kunst von Jan van Eyck und seiner Kollegen. Neu aber ist der Verzicht auf die religiöse Funktionalisierung der Kunst. Und das ist, wie Hegel festhält, kein Verlust:

„Sehen wir die holländischen Meister mit diesen Augen an, so werden wir nicht mehr meinen, die Malerei hätte sich solcher Gegenstände enthalten und nur die alten Götter, Mythen und Fabeln oder Madonnenbilder, Kreuzigungen, Martern, Päpste, Heilige und Heiliginnen darstellen sollen. Das, was zu jedem Kunstwerk gehört, gehört auch zur Malerei: die Anschauung, was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist. Diese Auffassung der inneren menschlichen Natur und ihrer äußeren lebendigen Formen und Erscheinungsweisen, diese unbefangene Lust und künstlerische Freiheit, diese Frische und Heiterkeit der Phantasie und sichere Keckheit der Ausführung macht hier den poetischen Grundzug aus, der durch die meisten holländischen Meister dieses Kreises geht. In ihren Kunstwerken kann man menschliche Natur und Menschen studieren und kennenlernen.“

Jacob van Ruisdael, Die Burg Bentheim, 1653 © National Gallery of Ireland / Wikicommons

Der zweite Punkt ist die Integration der Kunst ins bürgerliche (und übrigens auch bäuerliche) Selbstverständnis. Kunst an den Wänden hängen zu haben, war nun nicht mehr ein Privileg weniger, feudaler Kreise, sondern ein verbreitetes Phänomen und eine Art Statussymbol des aufstrebenden Mittelstandes. Aber man gab Kunst nicht mehr in Auftrag, sondern kaufte es von Kunsthändlern oder auf Ausstellungen bzw. erwarb es durch Lotterien. Ein Kunstmarkt entstand, der den Bürgern ein Angebot unterbreitete, aus dem sie wählen konnten.

Der dadurch entstandene Bilder-Reichtum der holländischen Haushalte war immens, wie Michael North in seiner Studie über Kunst im Goldenen Zeitalter der Niederlande gezeigt hat: „In fast allen niederländischen Häusern hingen künstlerische Erzeugnisse, die von einfachen Drucken über Zeich­nungen und Kopien bis zu Gemälden reichten. Ge­mälde besaßen, wie man für Delft geschätzt hat, immerhin zwei Drittel der Haushalte“. Vermutlich hat es selten eine Zeit gegeben, in denen Bilder im Sinne von Kunst so verbreitet waren wie damals.

Aber man kann auch deutlich Unterschiede zwischen den Konfessionen feststellen: „Während die Katholiken weiter an ihren Andachtsbildern festhielten, akzeptierten die Reformierten religiöse Themen allenfalls zur Belehrung, sofern sie ihre Gemälde nicht zum Zweck der Unterhaltung oder des persönlichen Vergnügens auswählten. Dieser Unterschied in den Sammlungen von Katholiken und Protestanten markiert in nucleo den Funktionswandel des Gemäldes, der sich in den Niederlanden im 17. Jahrhundert vollzog.

Die im Mittelalter und noch im 16. Jahrhundert vorherrschende Andachtsfunktion wich der Unterhaltungsfunktion. Man kaufte sich ein Bild, um sich daran zu erfreuen und sein Haus damit zu schmücken.“ Am Ende des 17. Jahrhunderts hatten gerade noch einmal 10% aller Bilder in den Niederlanden religiöse Themen. Im sonstigen Europa wurde dieser Stand der Säkularisierung der Kunst erst 200 Jahre später erreicht. In diesem Sinne ist die Konzentration auf ein Themenfeld wie „Bild und Bibel“ nicht nur in reformierter Perspektive ein historischer Rückschritt.

Sinn und Geschmack, das wird nun klar, musste den Betrachter auszeichnen, der sich dieser neuen Kunst aussetzte und sie verstehen wollte. Ein ganz anders geartetes Kunstsystem war entstanden, das viel stärker auf die Individualität des Künstlers wie des Betrachters setzte.


Andreas Mertin
Gedanken zu einer theologischen Ästhetik

Von Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und Karl Barth geschult wirft Andreas Mertin einen reformierten Blick auf die Kunst von ihrem Anfang in steinzeitlichen Höhlen bis zur Gegenwart. Der Medienpädagoge und Ausstellungskurator nimmt das Bilderverbot als Kultbilderverbot ernst. Das zweite Gebot sei jedoch kein Kunstverbot.